Wie viel Chaos darf ich durchgehen lassen?

„Ordnung braucht nur der Dumme, das Genie beherrscht das Chaos.“ Dieses Zitat von Albert Einstein hat Ihnen Ihr pubertierender Nachwuchs vermutlich auch schon einmal als Standardausrede für Zimmer- und Schreibtischchaos entgegengeschleudert. Ein Trost für alle ordnungsliebenden Eltern mag in diesem Zusammenhang sein, dass der bekannte Dichter Novalis, Genialität jedoch grundsätzlich als natürlichen Zustand des Menschen betrachtete. Doch wenn Sie sich bei diesem Thema nicht auf eine philosophische Diskussion einlassen wollen, sondern lieber nach konkreten alltagstauglichen Handlungsanweisungen suchen, dann sollten Sie hier weiterlesen.

Auf die Frage: „Wie viel Chaos darf ich durchgehen lassen?“, kann man zunächst ganz allgemein antworten: „Sie dürfen genau so viel Chaos durchgehen lassen, wie es für Sie als Mutter oder Vater einerseits noch vertretbar ist und andererseits Ihr Kind das Chaos selbst noch im Griff hat.“ Zwei Perspektiven also sind bei diesem Thema zu klären:

Perspektive 1: Ihr persönlicher Blick, Ihre Wahrnehmung, Ihre Empfindungen
Lange haben Sie die „Spur der Verwüstung“, die Ihr Kind täglich hinter sich herzieht, ertragen oder nach fehlgeschlagenen Ermahnungen sogar selbst beseitigt. Nun ist Ihre Geduld am Ende und das darf Ihr Kind auch spüren. Sie dürfen beherzt ausflippen und Ihrem Nachwuchs in aller Deutlichkeit sagen, dass auch Sie hier wohnen und sich in den eigenen vier Wänden gerne unfallfrei und geruchsneutral bewegen möchten.

Doch bevor Sie Ihrem Ärger Luft machen, sollten Sie sich noch folgende selbstkritische Fragen stellen:

  1. Wer hat hier tatsächlich das Problem? Bin ich vielleicht übertrieben ordnungsliebend? Sehe nur ich das Chaos oder was meinen die anderen Familienmitglieder? Findet mein Kind trotz Chaos alle seine (Schul-)Sachen und arbeitet konzentriert und ist organisiert?
  2. Wie weit fällt der Apfel wirklich vom Stamm? Gibt es in der Familie vielleicht noch weitere Chaoten? Gehöre ich, Mutter oder Vater, dazu? Wie sieht eigentlich mein eigener Schreibtisch aus? Welches Vorbild gebe ich für mein Kind ab?

Passen Sie die Heftigkeit Ihres Wutausbruches einfach dem Ergebnis Ihrer Antworten an.

Perspektive 2: Der Blick Ihres Kindes auf das vermeintliche Chaos
Kinder und Jugendliche haben meist Ihre eigenen Vorstellungen von Ordnung und somit auch eine andere Wahrnehmung des Problems als Ihre Eltern. Ihr Kind fühlt sich vielleicht wirklich in seinem Chaos wohler als in einem aufgeräumten Zimmer. Oder Ihrem Kind ist ehrlich nicht bewusst, dass es seine Sachen einfach überall stehen und liegen lässt. In der Pubertät setzt Ihr Kind mitunter eben deutlich andere Prioritäten als Sie.

Zum Problem wird die Unordnung für Ihr Kind allerdings in dem Moment, in dem es sein Chaos nicht mehr kontrollieren kann und z.B.

  • benötigte Zettel oder Arbeitsmaterialien nicht mehr findet,
  • unkonzentriert beim Lernen ist, weil es sich von herumliegenden Dingen ständig ablenken lässt,
  • wichtige Hausaufgaben oder Termine für Klassenarbeiten vergisst oder
  • zunehmend inhaltlich auf dem Schlauch steht, weil das Chaos auf dem Schreibtisch den Überblick im Kopf nicht mehr zulässt.

Auch wenn Ihr Kind in dieser Situation vermutlich kaum zugeben wird, dass es ein Ordnungsproblem hat, so sollten Sie Ihm doch dann helfend unter die Arme greifen. Folgende Tipps und Ideen für pubertierende (und bereits erwachsene) „Chaoten“ haben sich hier bewährt:

Tipp 1: Trennung von Arbeitsplatz und Entspannungsbereich
Oft ist der Schreibtisch zugleich der Ort, an dem Ihr Kind seine Hausaufgaben erledigt und lernt, aber auch Computer spielt, zeichnet, Zeitschriften liest und liegen lässt oder den Chemiebaukasten auspackt. Besser ist es, hier eine klare Trennung zwischen Arbeits- und Freizeitbereich im Zimmer Ihres Kindes zu schaffen. Richten Sie gemeinsam mit Ihrem Sohn oder Ihrer Tochter eine Arbeitsecke mit Schreibtisch, Bücherregal, Ablagen etc. ein, so dass alle Schulmaterialien beim Lernen griffbereit sind. Wenn diese Ecke ordentlich bleibt, hilft das der Konzentration bereits sehr und Ihr Kind muss nicht ständig vor dem Lernen das aufräumen.

Tipp 2: Eine Wohlfühlatmosphäre schaffen
Lernen und Arbeiten macht dann Spaß, wenn dies in einer angenehmen Atmosphäre geschieht. Fühlt sich Ihr Kind in seiner Lernumgebung wohl, verknüpft sein Gehirn Lernen auch eher mit positiven Empfindungen und lernt leichter. Eine gedankliche Trennung zwischen Lernen = doof und Freizeit = cool schadet nicht nur der grundsätzlichen Einstellung zum Arbeiten, sondern ganz einfach auch dem Gelingen des Lernprozesses. Deshalb fragen Sie am besten Ihr Kind, wie es sich sein Zimmer und seinen Arbeitsbereich gerne einrichten möchte, damit es sich gerne dort aufhält. Das muss nicht immer gleich Geld kosten. Mit Farbe, Pflanzen und handwerklichem Geschick kann Ihr pubertierendes Kind hier gut selbst tätig werden. Und – wer sich selbst sein kleines Reich schaffen darf, wird es kaum gleich wieder verwüsten.

Tipp 3: Gemeinsam für Ordnung und System sorgen
Übernehmen Sie auf keinen Fall die Aufräum- oder Einrichtungsarbeiten für Ihr Kind. Wichtig ist, dass Ihr Sohn oder Ihre Tochter selbst festlegen können, wie ihr Wohlfühl-Arbeitsplatz und ihr zukünftiges Ordnungssystem aussehen sollen. Gerade in der Pubertät benötigt Ihr Kind die Freiheit, seinen eigenen Raum selbst gestalten zu können. Nehmen Sie Ihrem Kind also das Ruder nicht aus der Hand, aber achten Sie darauf, dass folgende Regeln und Tipps eingehalten werden:

  • Jedes Schulfach bekommt eine eigene Farbe: Aus der Grundschulzeit kennt Ihr Kind diese Zuordnung noch, doch irgendwann nach der 5. Klasse, wenn die Lehrer dieses Farbsystem nicht mehr fortführen, haben manche Schüler nur noch einen Schreibblock oder eine Mappe für alle Fächer. Zettelwirtschaft, inhaltliches Durcheinander, das Chaos ist hier vorprogrammiert. Farbige Hefteinschläge, farbige Ordner oder farbige Register für Sammelordner sind hier mögliche Alternativen, die Sie mit Ihrem Kind besprechen können.
  • Regale für Ordner und Ablagen frei räumen: Am besten in einem Regal neben dem Schreibtisch sollte Ihr Kind Platz schaffen für ein Ordnungssystem. Für jedes Schulfach sollte hier ein farbiger Ordner eingerichtet werden. So kann Ihr Kind zum Beispiel am Ende einer Schulwoche alle losen Zettel in die richtigen Ordner einsortieren. Zusätzliche, beschriftete Ablagen für Deutsch, Mathe, Englisch etc. helfen Ihrem Kind unter der Woche, seine Hefte, Arbeitsblätter oder wichtige Notizen am richtigen Ort schnell ablegen zu können.
  • Stammplätze festlegen: Nicht nur für die Ordner und Ablagen sollte es einen festen Ort im Regal geben. Auch für andere wichtige Arbeitsmaterialien ist es sinnvoll, wenn Ihr Kind Stammplätze einrichtet, z.B. ein reserviertes Regal für Schulbücher und Karteikästen, eine bestimmte Schublade für leere Schreibblöcke, Heft und Mappen und eine Materialkiste für kleinere Dinge wie Schere, Radiergummi, Spitzer, Pinsel, Tinten-Patronen etc.
  • Einfache Planungsinstrumente einführen: Wenn Ihr Kind wirklich sehr chaotisch ist und trotz gutem Willen Mühe hat, Ordnung zu halten, dann müssen Sie sich vermutlich damit abfinden, dass Ihr Kind nie wirklich ordentlich werden wird. Auch mit systematischen Hilfen, wie Zeitplaner oder Lernhilfen wie Karteikästen können chaotische Schüler meist nichts anfangen. Sie quälen sich damit sehr und das oft ohne Erfolg. Ganz einfache Planungs- und Übersichtshilfe nehmen solche Schüler eher an. Geeignet ist hier eine monatliche Übersicht für anstehende Klassenarbeiten, Referate und Tests. Zusätzlich bietet sich eine abwischbare Wochenübersicht mit Stundenplan sowie festen Terminen für Sport, Musik, Aufräumen etc. an. Hier kann Ihr Kind jede Woche weitere flexible Termine eintragen, wie zum Beispiel Verabredungen, Geburtstage oder ein Sportturnier.

Unsere Ideen: Seiwerts Masern-Test und die Chaos-Kiste
Lothar J. Seiwert, ein bekannter Zeitplanexperte, rät bei unüberschaubaren Zettelbergen zum Masern-Test. Das bedeutet, dass jeder Zettel, der auf dem Schreibtisch bloß von einer Ecke in die andere geschoben wird, mit einem roten Punkt gekennzeichnet wird. Ab dem dritten Punkt muss der Zettel entweder in den Papierkorb oder einsortiert bzw. weggearbeitet werden.

Für besondere Chaoten bietet es sich an, eine größere Kiste (z.B. Postkiste) als Chaos-Kiste bereit zu halten. Ist das Durcheinander auf dem Schreibtisch dann doch einmal zu groß, darf Ihr Kind vor den Hausaufgaben statt aufräumen einfach alle störenden Dinge in die Kiste packen. Legen Sie mit Ihrem Kind fest, wann bzw. wie oft pro Woche es die Kiste leerräumen soll.

Tipp 4: Eine verbindliche Aufräumzeit festlegen
Legen Sie gemeinsam mit Ihrem Kind eine feste Aufräumzeit pro Woche fest. Am besten eignen sich solche Zeiten zum Wochenende hin, so dass der Start in die neue Woche „geordnet“ beginnen kann. In dieser Aufräumzeit sollte Ihr Kind auch alle losen Zettel einsortieren, die Ablagen durchsehen und die Chaos-Kiste ausräumen.

Gibt es Stress oder hat Ihr Kind einfach Probleme, diese Aufräumzeit einzuhalten, dann lassen Sie Ihr Kind zum Beispiel vor dem Fußballtraining oder vor der Samstagabend-Verabredung aufräumen. Aber bleiben Sie konsequent, erst wenn die ganze Aufräumarbeit erledigt ist, beginnt das Freizeitprogramm.

Tipp 5: Besprechen Sie Konsequenzen und bleiben Sie konsequent!
Hält Ihr Kind sich nicht an die verabredeten Ordnungs- und Aufräumregeln, dann antworten Sie nicht mit persönlicher Betroffenheit oder Streit, sondern mit Konsequenzen. Diese Konsequenzen sollten Sie im Voraus genau mit Ihrem Kind besprechen. Räumt Ihr Kind zum Beispiel nicht, wie vereinbart, am Samstag sein Zimmer auf, so fällt das Fußballtraining eben aus oder Ihr Kind geht erst dann zu seiner Verabredung, wenn es seine Aufgabe zufriedenstellend erledigt hat. Die Konsequenz ist in diesem Fall keine willkürliche Strafe, die Ihre Beziehung belastet, sondern eine logische und für Ihr Kind genau berechenbare Folge seines Handelns. Deshalb: Bleiben Sie konsequent, auch wenn es vielleicht schwer fällt. Ihr Verhalten bestimmt in dieser Situation maßgeblich das Verhalten Ihres Kindes.